Eine Minute lang hat der Zuhörer, ein Mann im Rentenalter mit Brille und lichtem Haar, seine Skepsis bereits begründet. Und zum Schluss erwähnt er noch das Offensichtliche: "Das Darknet ist ein schwarzes Loch. Das sagt ja schon der Name."
Stefan Mey steht nach seinem Vortrag in der Volkshochschule Magdeburg vor seinem Laptop und lächelt. Nicht, weil er den Mann, einen von 25 Besuchern an diesem Montagabend im März, nicht ernst nimmt. Vielmehr, weil dieses Argument alles andere als neu für ihn ist: "Ja, das höre ich oft", sagt er, und erwidert dann wie immer: "Dunkelheit kann auch etwas Schönes sein."
Kinderpornografie, Drogen- und Waffenhandel – im Darknet wiegen sich Pädophile und Kriminelle bei ihren Geschäften in Sicherheit. Sie sind ohne digitale Fingerabdrücke im Netz unterwegs, im Schutz der Anonymität.
"Ich finde die Technologie gut und wichtig."
"Ich kann total verstehen, wenn Leute diese Abgründe so schlimm finden, dass sie dem Darknet jegliche Legitimation absprechen", sagt Stefan Mey. Aber: "Ich finde die Technologie, die hinter dem Darknet steckt, trotzdem gut und wichtig. Ich wünsche mir, dass das Darknet eine eigene Dynamik entwickelt."
Stefan Mey stammt aus Halle und arbeitet als freier Journalist. Seit vier Jahren beschäftigt sich der 38-Jährige hauptsächlich mit dem Darknet. Vor zwei Jahren hat er ein Buch darüber geschrieben. 6.000 Exemplare wurden von der Erstauflage verkauft. Mey sagt: "Ein voller Erfolg." Aktuell tourt er für eine Vortragsreihe über das Darknet durch Deutschland – und machte nun auch Station in Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt.
Die Skepsis unter den Zuhörern ist groß nach dem Vortrag in Magdeburg. Ein Mann spricht sogar von einer "Werbeveranstaltung für das Darknet". Er könne nicht verstehen, warum die Volkshochschule und die Landeszentrale für politische Bildung dem Thema in dieser Form Raum geben würden. Am Ende, so antwortet Mey, vor allem aus einem Grund: "Es kursieren viele Mythen über das Darknet. Alles Schlimme, was im Netz passiert, passiert ja angeblich dort." Doch das sei ein Vorurteil.
Das Darknet ist sehr viel kleiner als die Leute denken. 20.000 bis 60.000 Menschen nutzen es weltweit pro Tag. Zum Vergleich: Auf Facebook sind es mehr als eine Milliarde.
Unterscheidung zwischen legal und illegal kaum sinnvoll
Er habe gelernt, dass die Unterscheidung zwischen legal und illegal im dunklen Internet kaum sinnvoll sei, so Mey. Er unterteilt das Darknet stattdessen wie folgt:
- Zum einen gebe es sogenannte Markplätze für Drogengeschäfte. Sie gleichen Plattformen aus dem "normalen" Internet wie Amazon oder Ebay. "Leute, die aus ökonomischen Gründen mit Drogen handeln, sind nicht unbedingt völlige Psychopathen. Vielleicht haben sie sogar eine Familie, die sie damit finanzieren. Es gibt dort eine gewisse Untergrundmoral", sagt Mey.
- Dann wären da die Abgründe des Darknets, wie Mey sie nennt – vor allem Kinderpornografie und Waffenhandel. "Das ist das große Dilemma, dass diese Technik auch für so etwas genutzt wird", sagt der Experte.
- Ein weiterer Bereich des Darknets ist laut Mey die politische Nutzung. "Medien wie die New York Times, der Guardian oder die Taz haben Adressen für Whistleblower im Darknet eingerichtet und wahren so die Anonymität ihrer Informanten", sagt Mey. Gesellschaftliche und politische Missstände könnten so aufgedeckt werden. "Whistleblower wie Edward Snowden gelten für viele als Held, obwohl sie sich mindestens mit einem Bein im illegalen Bereich bewegen." Auch für Systemkritiker in autoritären Staaten sei das Darknet oft die einzige Chance, sich anonym zu äußern.
Mey ist fasziniert von der politischen Nutzung des Darknets. Neben den Postfächern für Whistleblower seien auch linke Aktivisten und Menschenrechtler dort mit ihren Inhalten vertreten. "Sie sorgen so dafür, dass die Nutzer geschützt sind und nicht ihre Identität offenbaren, dafür, dass keine Daten über sie gesammelt werden", sagt Mey. "Als die Internettechnologie erdacht wurde, ist keiner auf die Idee gekommen, dass es Probleme mit dem Datensammeln geben könnte. Aber mittlerweile lässt sich im normalen Internet allein schon durch die IP-Adressen leicht nachvollziehen, wer mit wem kommuniziert." Und das stört immer mehr Menschen – ob nun politisch aktiv oder nicht.
Anonymisierung mit dem Tor-Browser
Das Darknet mit seiner Tor-Technologie könnte da Abhilfe schaffen. Tor steht für "The Onion Router", zu Deutsch "der Zwiebel-Router". Um seine Herkunft zu verschleiern, leitet die Tor-Software jedes Datenpaket über verschiedene, zufällig ausgewählte Rechner, bevor es über einen Endknoten ins offene Internet übergeben wird. Insgesamt gibt es mehrere tausend Knotenpunkte, die weltweit über viele Länder verteilt sind. Die Daten sind verschlüsselt und können auf keinem der beteiligten Tor-Rechner mitgelesen werden. Es handelt sich um eine mehrfache Verschlüsselung im Zwiebelschalenprinzip. Der Nutzer bleibt anonym. Der Tor-Browser lässt sich ganz simpel im "normalen" Internet herunterladen. Dort gibt es auch Link-Listen für das Browsen im Darknet. Die dortigen Suchmaschinen funktionieren nämlich kaum.
Mey glaubt: "Es wäre spannend, wenn alle Leute den Tor-Browser nutzen würden." Denn er sagt: "Der Wunsch nach Anonymität im Netz ist legitim. Du kannst in einem Rechtsstaat leben und keine Straftaten begehen und trotzdem anonym bleiben. Es gibt ganz grobe Rechtsverstöße von Staaten und Unternehmen bei der Sammlung von Daten. Sie sind total dreist und übergriffig, was die Privatsphäre der Menschen angeht. Deshalb ist die Nutzung von Tor lediglich digitale Selbstverteidigung vor den großen Datenkraken des Internets wie Facebook oder Google."
Haftstrafen für Betreiber einer Kinderpornoplattformen
Doch das Darknet hat einen üblen Ruf. Und der ist begründet: Erst Anfang März wurden vier Deutsche für den Betrieb einer der weltweit größten Kinderpornoplattformen namens "Elysium" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Männer im Alter von 41 bis 63 Jahren wurden wegen Besitzes und bandenmäßiger Verbreitung von Kinderpornografie schuldig gesprochen. Ein Angeklagter wurde zusätzlich wegen schweren Kindesmissbrauchs verurteilt. Die Darknet-Plattform hatte etwa 80.000 aktive Nutzerkonten.
Auch der Amoklauf in München im Juli 2016 machte die Öffentlichkeit auf das Darknet aufmerksam. Der 18 Jahre alte Täter, der neun Menschen und sich selbst tötete, hatte die Waffe dort gekauft.
Der Bundesrat hat in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf beschlossen, der härtere Strafen für manche Plattform-Betreiber im Darknet vorsieht. Die Betreiber sollen auch bestraft werden, wenn sie ihre Leistungen zwar im Ausland anbieten, jedoch im Inland rechtswidrige Straftaten ermöglichen. Außerdem sollen Strafverfolgungsbehörden von Postdienstleistern Auskünfte über noch nicht zugestellte sowie bereits ausgelieferte Sendungen einholen dürfen.
Kritiker sehen die Freiheit des Internets gefährdet – so auch Stefan Mey: "Da steckt doch der Wunsch dahinter, die Anonymität zu kriminalisieren, auch wenn man eigentlich nur die Privatsphäre schützen will." Das sei unnötig, denn: "Es gibt keine Strafbarkeitslücke. Es steht und stand nie im Zweifel, dass Betreiber kinderpornografischer Foren belangt werden dürfen. Wenn jemand einen Drogenmarktplatz betreibt, kriegt man den auch problemlos dran. Der Typ, von dem der Amokläufer aus München die Waffe gekauft hat, wurde auch verurteilt. Ich finde, dieser Gesetzesbeschluss zeigt ein sehr problematisches rechtsstaatliches Verständnis."
Wie ermitteln Behörden im Darknet?
Stefan Mey sagt: "Die Polizei ist bei ihren Ermittlungen im Darknet wahnsinnig erfolgreich." Technische Ermittlungen würden im Darknet zwar regelmäßig versagen, denn: "Es gibt keine IP-Adressen, die sie Menschen zuordnen können. Es gibt keine Zahlungsströme, die sie nachverfolgen können, weil im Darknet mit Bitcoins bezahlt wird. Aber die Ermittler sind meistens durch klassische Polizeiarbeit erfolgreich."
Das heißt: "Sie schleusen zum Beispiel verdeckte Ermittler ein, vor allem auf den Marktplätzen, kaufen dann selber Waffen oder Drogen. Und sie warten darauf, dass die Händler einen Fehler machen, sich zur Übergabe mit den Käufern treffen oder Fingerabdrücke auf den Drogenpaketen hinterlassen. Dann bieten sie dem Händler zum Beispiel einen Deal an, betreiben sein Profil weiter und können so noch mehr Kriminelle dingfest machen."
Ein Paradebeispiel kommt aus Sachsen-Anhalt: Erst im Februar haben Polizisten in Halle und im Saalekreis 40 Kilogramm Drogen sowie Waffen und Drogengeld sichergestellt. Vorangegangen waren Ermittlungen im Darknet. Das Landeskriminalamt (LKA) erklärt generell: "Auch in Sachsen-Anhalt gab es in den letzten Jahren zunehmend Ermittlungsverfahren mit Bezug zum Darknet."
"Wenn ich jungen Leuten von meiner Arbeit erzähle, dann leuchten ganz oft die Augen", erzählt Stefan Mey. "Gerade den Drogenaspekt finden viele spannend." Und auch Mey, der im Zuge seiner Recherchen mit zahlreichen Wissenschaftlern gesprochen hat, sagt: "Die Erfahrungen haben gezeigt, dass du Drogenkonsum nicht verhindern und nur schwer reduzieren kannst. Also sieht die Wissenschaft durchaus Vorteile der Marktplätze im Darknet."
Politischer Aktivismus, Untergrundmoral, Datenschutz
Das Risiko, an verunreinigte Drogen zu gelangen, sei geringer – allein schon durch ein "Qualitätsmanagement" der Markplätze in Form von Nutzerbewertungen. Außerdem gebe es keinen direkten Kontakt zu den Dealern, was die Beschaffung sicherer mache. "Wenn ein Student aus Halle oder Magdeburg sich fünf Gramm Cannabis kauft, wird er vom Marktplatz-Betreiber danach aufgefordert, eine Bewertung zu schreiben. Da kann dann stehen: 'Tolles Zeug, ich komme wieder'. Oder: 'Hände weg, das ist ein Betrüger'. So funktionieren diese Geschäfte, obwohl sich eigentlich niemand vertrauen kann, weil niemand den anderen kennt."
Der Ruf, der dem dunklen Internet vorauseilt, ist zu düster, sagt Stefan Mey. "Es gibt ja zum Beispiel diesen Mythos, dass es angeblich Seiten im Darknet gibt, wo man ganz einfach Auftragsmöder engagieren kann", erzählt der Journalist. "Das halten aber auch Experten aus dem Sicherheitsbereich für fake. Entweder hat da jemand einen schrägen Humor oder das sind Betrüger. Die hoffen dann, dass jemand einen Bitcoin überweist. Danach können die Auftraggeber dann ja schlecht zur Polizei gehen und sagen: 'Mein Nachbar, der lebt noch, ich will meinen Bitcoin zurück'."
Politischer Aktivismus, Untergrundmoral, Datenschutz – all das lässt Stefan Mey an das Darknet glauben. "Momentan ist das noch unerschlossenes Land, das für illegale und ein paar politische Zwecke genutzt wird. Als es mit dem Internet losging, gab es Utopien, dass das ein ganz toller Ort wird, friedlich, frei und ohne Macht", sagt Mey. "Im Darknet könnte man an diese Utopie anknüpfen. Leute weltweit könnten sich vernetzen. Da schreibt dann zum Beispiel eine pakistanische Textilarbeiterin einen Blogbeitrag über ihre schlechten Arbeitsbedingungen. Das liest dann ein Paketzusteller aus Halle oder Magdeburg, der vielleicht eher rechts eingestellt ist, aber er merkt, dass sie eigentlich mehr verbindet als trennt, weil sie beide nicht auf der Sonnenseite des Kapitalismus leben." Und beide blieben anonym, müssten keine Repressalien fürchten.
Mey meint: "Das Darknet könnte ein Ort sein, den man mit Leben und Inhalten füllt und so versucht, das Internet nochmal neu auszuprobieren." Und er hat da Hoffnung – auch wenn noch viele Menschen, so wie die an der Volkshochschule Magdeburg, skeptisch sind.
Über den Autor Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung als Sportredakteur und berichtete hauptsächlich über die besten Fußballklubs Sachsen-Anhalts: den 1. FC Magdeburg und den Halleschen FC.
Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt, in der er seitdem in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet – als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.
Author: Christopher Hicks
Last Updated: 1704200522
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